Liebe Frau Botschafterin Seelig, Sie sind als Berufspatin bei Berliner Schulpate aktiv. Was hat Sie bewogen, diese Idee zu unterstützen?
Ich war sofort begeistert von der Idee, Grundschulkindern spielerisch verschiedene Berufe nahezubringen. Sie verfügen über eine große Offenheit und Aufnahmebereitschaft und sind noch begeisterungsfähig, empfänglich und interessiert. Sie kommen ja meistens zum ersten Mal mit der Arbeitswelt in Kontakt, wenn sie ein Praktikum machen müssen und dieses findet in der Regel erst in der 9. oder 10. Klasse statt, also mitten in der Pubertät. Ich erinnere mich noch, wie das bei mir damals war. Da hatte ich andere Sorgen als Schule, Ausbildung, Beruf oder Zukunft überhaupt. Da war alles eher blöd, langweilig und peinlich. Deswegen finde ich es prima, in einem jungen Alter mit der Vermittlung von Berufsbildern anzufangen. Das ist schon was Tolles!
Und ich finde es auch wichtig, gerade Kindern aus Familien, die Transferleistungen erhalten, in denen es wenige oder keine Berufsvorbilder gibt, zu zeigen, wie erfüllend es sein kann zu arbeiten und wie nett es ist, es mit Kolleg*innen zu tun zu haben. Das fehlt Vielen und ist meines Erachtens eine Prägung in eine falsche Richtung.
Wie kamen Sie zu der Entscheidung, in den Gesundheitsbereich zu gehen?
Bei mir war es auch so, dass ich lange nicht wusste was ich werden wollte, ich wusste immer nur, was ich nicht werden wollte. Klar war, dass ich etwas machen wollte, wo ich es mit anderen Menschen zu tun haben würde. Einen sinnvollen Beruf wollte ich, auch im Sinne von etwas für andere Sinnvolles, irgendwie etwas Gutes und Wichtiges tun. Ein sozialer Beruf, wo ich meine Stärken – Kommunikationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen – einsetzen könnte.
Ich habe dann während meiner Schulzeit ein Praktikum in der Pflege gemacht und da merkte ich: Das fühlt sich gut an, das ist das Richtige für mich.
Was halten Sie von dem Konzept, bereits Grundschulkindern ab der vierten/ fünften Klasse Berufsbilder vorzustellen? Manche halten das für zu früh.
Diese Auffassung teile ich überhaupt nicht. Gerade in diesem Alter besteht eine große Offenheit und Begeisterungsfähigkeit, verschiedene Berufe kennenzulernen und sie spielerisch auszuprobieren. Das funktioniert. Aber 2 – 3 Jahre später funktioniert das oft nicht mehr.
Welche Erfahrungen haben Sie mit den „Kleinen“ in den Berufe-Stunden gemacht?
Ach, beste! Meine Erfahrung ist, dass es sehr gut ankommt, wenn man mit Erklärungen eher zurückhaltend ist und mehr spielerisch etwas ausprobiert. Das macht am meisten Spaß – den Kindern und mir auch. Ich habe mir ein kleines Konzept für die Berufe-Stunden überlegt. Wir spielen Krankenpfleger*in und Patient*in. Dafür bilden wir Zweiergrüppchen. Ein Kind ist Patient*in, die/ der andere Krankenschwester oder Krankenpfleger und umgekehrt. Die Kinder lernen, sich gegenseitig Verbände anzulegen, einander die Zähne zu putzen, messen Blutdruck und Puls, verabreichen ihrem/ ihrer „Patient*in“ etwas zu essen und lassen einander aus dem Schnabelbecher trinken. Als „Patient*innen“ tragen sie dicke Brillen, damit sie schlecht sehen, Ohrstöpsel, damit sie schlecht hören und ihre Arme sind verbunden, damit sie sich nicht gut bewegen können. Die Krankenpfleger*innen „arbeiten“ mit Schutzkleidung und Mundschutz, so wie wir es auch machen, wenn wir zum Beispiel Corona Patient*innen betreuen. Allein das Feeling so eingeschränkt und abhängig zu sein, ist ein Erlebnis und sehr eindrücklich. Und auch die Rolle der pflegenden Person ist interessant. Wie fühlt es sich an, jemandem Essen einzugeben, einen Verband anzulegen oder Blutdruck zu messen? Beide Rollen sind für die Kinder schräg und ungewohnt. Sie nehmen sie in der Regel sehr ernst, haben gleichzeitig viel Spaß und bekommen einen intensiven Eindruck und ein Gefühl dafür, was Pflege bedeutet.
Wenn ich am Schluss frage, wer sich vorstellen kann, später in einem Pflegeberuf zu arbeiten, meldet sich meistens die Hälfte der Gruppe. Wir machen Fotos, jede/r bekommt eine Pulsuhr geschenkt, einen Flyer und vielleicht, wer weiß, meldet sich ein paar Jahre später die eine oder der andere für ein Praktikum.
Ist Ihr Engagement bei Berliner Schulpate Teil Ihrer Strategie zur Nachwuchs-Akquise?
Am Anfang hatte ich mein Engagement gar nicht als Nachwuchs-Akquise betrachtet, aber heutzutage sage ich, ja, auf jeden Fall! Wir beteiligen uns nicht nur bei Berliner Schulpate, sondern auch am Boys‘ Day. Da die Pflege traditionell ein Frauenberuf ist, versuchen wir dem entgegenzuwirken und tatsächlich stelle ich fest, dass der Anteil der Männer in der Pflege zugenommen hat.
Das Jüdische Krankenhaus hat seine Ausbildungsplatzzahl von 53 auf 70 aufgestockt. Die Chancen, diese auch zu besetzen, stehen nicht schlecht. Es könnte sein, dass Corona in dem Punkt geholfen hat, denn das Ansehen der Pflege hat sich durch die Pandemie in der Öffentlichkeit verbessert. Hinzukommt, dass viele Branchen derzeit nicht oder nur eingeschränkt arbeiten, und somit auch nicht ausbilden können.
Aus meiner Sicht gibt es nicht viele Berufe, die man mit einem Mittleren Schulabschluss erlernen kann, die so anspruchsvoll und befriedigend sind, wie der der Pflegefachfrau/ des Pflegefachmanns
(so heißt der Beruf seit 2020). Das heißt aber natürlich nicht, dass man nicht an unbefriedigenden Rahmenbedingungen arbeiten muss – Stichworte: Digitalisierung, Hierarchien, familienfreundliche Arbeitszeiten, bürokratische Vorgaben, Dokumentationsaufwand u.a.
Und es gibt auch einen dualen Studiengang Pflege, der mit dem Bachelor abschließt und immer beliebter wird.
Übrigens sind Diversität und Multikulturalität in der Pflege ein echter Vorteil. Der Pflegeberuf braucht Menschen mit verschiedenen kulturellen und sprachlichen Hintergründen für eine individuelle und empathische Pflege. Wir im Jüdischen Krankenhaus Berlin decken mit unseren Mitarbeitenden z.B. 47 Sprachen ab!
Das Thema „Pflege“ ist ein sehr aktuelles Thema. Stichwort: Fachkräftemangel. Wie gehen Sie damit um? Haben Sie Antworten/ Lösungsvorschläge?
Wie allgemein bekannt, gibt es einen enormen Fachkräftemangel in der Pflege und das Image ist nicht gerade sehr gut. Das liegt teilweise an den schwierigen Arbeitsbedingungen wie Schicht- und Wochenenddienst, aber auch an Vorurteilen, die den schlechten Ruf immer wieder reproduzieren und nicht gerade dazu beitragen, dass junge Menschen sich für einen Beruf in der Pflege interessieren. Zum Beispiel wird hartnäckig von der schlechten Bezahlung in der Pflege gesprochen. Zum Teil stimmt das ja auch, aber ich würde das Thema nicht so pauschal, sondern etwas differenzierter betrachten. Eine schlechte Bezahlung erhalten angelernte Hilfskräfte, vorwiegend in der häuslichen Versorgung oder in der Langzeitpflege.
Wir haben einen guten Tarifvertrag. Azubis, zum Beispiel, erhalten im 1. Ausbildungsjahr eine Vergütung von über 1.100 Euro brutto. Da sind viele Ausbildungsbewerber*innen meistens positiv überrascht. Aber wer weiß das schon?
Ich bin davon überzeugt, dass es für das Image hilfreich, richtig und wichtig ist, aufzuzeigen, was die Pflege ausmacht. Neben den Schwierigkeiten, die jeder Beruf mit sich bringt, ist Pflege nämlich ein toller, verantwortungsvoller und vielseitiger Beruf. Das sollte erlebbar und deutlich gemacht werden, damit Pflegende stolz zu ihrer Arbeit stehen können.
Sie als unsere „Botschafterin“ heute, was denken Sie, braucht es, damit es mit dem „Nachwuchs“ klappt, Azubis sich für einen Beruf interessieren und eine Ausbildung erfolgreich abschließen?
Junge Menschen müssen gut abgeholt werden, damit sie dabeibleiben. Ihre Stärken und Schwächen sollten erkannt werden, sodass man sie gut fördern und fordern kann. Die eine ist eher technik-affin, der andere kommunikativer, das sollte erkannt und berücksichtigt werden. Das Berufsbild hat sich sehr verändert und ist, wie gesagt, höchst vielfältig. Spezialisierungen sind sehr gut möglich, z.B. für Intensivpflege, Psychiatrie oder Schlaganfallbehandlung. Es gibt auch viele Weiterentwicklungsmöglichkeiten wie z.B. in Richtung Pflegepädagogik, Management oder Pflege-ControllingWenn Azubis die für sich richtige Nische gefunden haben, bleiben sie meistens auch dabei und entwickeln sich weiter.
Auch außerhalb der Krankenhäuser gibt es viele Einsatzbereiche, wie zum Beispiel: Häusliche Pflege, Sozialstation, Pflegeheim, medizinische Assistenz auf einem Kreuzfahrtschiff, Entwicklungshilfe oder im medizinischen Dienst einer Krankenkasse. Ich hätte weltweit überall anfangen können.
Das Interview führte Petra Wermke von Berliner Schulpate